Die lange Lernphase des Menschen

Kindheit und Jugend, also die Zeit in der man am meisten lernt, ist beim Menschen überproportional verlängert im Verhältnis zu allen anderen Tierarten. Geschlechtsreife und Zeugungsfähigkeit wird beim Menschen erst recht spät, nämlich am Ende dieser langen Lernphase, erreicht.

Ist vielleicht dadurch unsere Kultur entstanden?

Was aber macht es für einen Sinn, das Erreichen der Zeugungsfähigkeit zu verzögern, wenn es dann doch keine Vererbung erworbener Eigenschaften gibt?

Was macht es andererseits für einen Sinn, die Lernphase verkürzen zu wollen, wie wir es heute beobachten, oder sie vorschnell für beendet zu erklären, z.B. mit Aussagen wie: „Meine Tochter ist 12, aber sie ist schon so weit wie eine 14-jährige“? Warum kann eine 12-jährige nicht einfach wie eine 12-jährige sein? Wofür ist der Ehrgeiz, weiter zu sein, gut?

Ist es der Ehrgeiz, mit anderen zu konkurrieren, besser zu sein, sie hinter sich zu lassen – oder ist es ein Schritt rückwärts in der Evolution? Passen wir uns damit den anderen Säugetieren an, mit einer wieder kürzer werdenden Zeit von Kindheit, Wachstum, Entwicklung, Lernen? Haben wir das Ende der Evolution und der Hirnentwicklung erreicht, sind wir einen Schritt zu weit und müssen jetzt wieder zurück?

Wir sollen mit 17 Jahren das Abitur machen, mit 20 das Diplom, mit 23 die Promotion – und dann?

An meiner Schule war einmal ein Mathe-Lehrer aus Anklam, der bereits mit 16 das Abitur gemacht hat, weil zwei Jahre wegfielen, da er in der „verkürzten EOS“ die letzten 3 Jahre nur noch Mathe, Physik und Chemie als Unterrichtsfach hatte, sonst nichts: Er wirkte auf mich geistig verarmt.

Was ist so schlimm daran, sich in der Lernphase zu befinden? Vielleicht ist die Angst, im Status des Lernenden, des „Unfertigen“ stecken zu bleiben, größer als die Angst, nach Beenden des Lernens sich nicht mehr weiter zu entwickeln, weil man nichts mehr dazu lernt? Also beendet man das Lernen und sucht sich einen festen Platz. Oder ist Status wichtiger als Lernen und Entwicklung? Oder haben wir die Tendenz, uns dem Lernen zu verweigern, wenn es aufgezwungen wird?


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