Philosophie

Konstruktivismus und Positivismus

Kurt Gödel sagte einmal: „Wenn ein System hinreichend komplex ist, produziert es Unentscheidbares.“ Heinz von Foerster sagte später dazu: „Nur was prinzipiell unentscheidbar ist, können wir selbst entscheiden.“

Es stellt sich die Frage: Ab wann ist denn ein System „hinreichend komplex“? Den einen ist sehr schnell alles „zu kompliziert“. Daraus entstand der Positivismus: Alles was eindeutig entschieden ist, lässt sich gut abhaken, und muss uns nicht weiter beunruhigen.

Den anderen ist alles „zu einfach“, sie lieben es, selbst eindeutige Phänomene noch zu deuten, sich nicht von äußeren Erscheinungen festlegen zu lassen. Es kann ihnen nicht komplex genug sein, sie lieben die Freiheitsgrade, in denen ihr Geist sich tummeln kann. So entstand der Konstruktivismus.

Welcher Spur wollen wir folgen? Die zentrale Frage ist dabei: Entscheiden wir gerne selber, oder ist uns das lästig?

Wer keine gute Entscheidungsstrategie hat, wer sich mit Entscheidungen lange herumquälen muss, der wird froh sein, vor Tatsachen gestellt zu werden, damit er nicht andauernd entscheiden muss, der wird gern in Kauf nehmen, nicht selbst ent- scheiden zu müssen (und zu dürfen), und gern kritiklos folgsam sein. So werden Un- tertanen produziert, zum Beispiel in der Religion, beim Militär, in manchen Staaten …

Andere dagegen brauchen die Freiheit, immer selbst entscheiden zu können, und wollen sich ihre Entscheidungshoheit nicht nehmen lassen, sich keinem Zwang unterwerfen.

In der Naturwissenschaft nennen wir einen Zwang nicht „Zwang“, sondern „Randbedingung“. Wichtige Randbedingungen für biologische Prozesse sind z.B. die Temperatur, oder wie viel Raum zur Verfügung steht, wie viel Luft, wie hoch die Luftfeuchtigkeit ist, ob ein Vakuum herrscht, usw. Zur vollständigen Beschreibung eines Prozesses ist es wichtig, alle relevanten Randbedingungen zu kennen. Und: Zur Erforschung und Veränderung aller Arten von Prozessen ist es erforderlich, dass wir zumindest einige der Randbedingungen frei wählen können.

Konstruktivisten sagen gerne: Es gibt keine Randbedingungen, es gibt nur Freiheitsgrade. Ist dieses Grün, dass du zu sehen glaubst, überhaupt ein Grün, oder kann nicht jeder selbst entscheiden, was er sieht? Der Konstruktivismus liefert uns viele Freiheitsgrade; das ist die Energie des Archetypus „Magier“: Freiheit, Leichtigkeit, aber auch Haltlosigkeit und Beliebigkeit, kopflastig, körperlos, Denken ohne Rückkoppelung.

Positivisten sagen dagegen gerne: Es gibt keine Freiheitsgrade. Es gibt nur Randbedingungen, daran können wir nichts ändern. Das ist eine unumstößliche Tatsache! So ist das, und keine Widerrede! Für alles gibt es eine einfache Lösung. – Wer hier spricht, das ist die Energie des Archetypus „Krieger“: viel Kraft, wenig Geist, wenig geistige Freiheit.

Wie bringen wir diese Energien wieder ins Gleichgewicht? Gregory Bateson würde uns empfehlen: Bei allzu viel Festgefahrenheit, tut ein wenig mehr Konstruktivismus gut: Mehr Beweglichkeit, mehr Freiheitsgrade. Bei allzu viel Beliebigkeit, tut ein wenig mehr Positivismus gut: Eindeutigkeit, Entschiedenheit, in die Pflicht genommen werden, Konsequenz.

Das Dilemma dabei ist: Die geistreichen, kopflastigen, wenig irdischen Menschen bevorzugen weiterhin den Konstruktivismus, und wollen ihn noch wichtiger nehmen, noch weiter vorantreiben. Die entschiedenen, festgelegten, eingeengten Menschen dagegen, bei denen immer „alles klar“ ist, berufen sich umso mehr auf den Positivismus, als sicheres Terrain.

Als Lösung aus diesem Dilemma schwebt mir eine Triangulation vor: Wir müssen 3 Energien mischen, um diese Polarität zu entschärfen; dazu brauchen wir als dritte die Energie des Archetypus „Der/die Liebende“: Berührung, Körper, Sinnlichkeit, Schönheit der Natur genießen!
An der Schönheit eines Sonnenaufgangs gibt es nichts mehr zu deuten, die Schönheit einer Flussaue ist nicht mehr zu relativieren, der Duft eines Gewürzgartens nicht mehr zu interpretieren: Hier spricht das Herz, nicht der Verstand. Hier wird der Geist inspiriert, aber er kommt nicht auf die Idee, zu erklären, zu deuten: Hier gibt es nichts mehr zu deuten! Diese Schönheit ist nicht entscheidbar, sie berührt das Herz.

Und ein Hinweis für die Positivisten: Solche wunderschönen Momente in der Natur sind aber auch keine Tastsachen; sie sind vergänglich. Wir können sie nicht festhalten oder zum Gesetz erheben. Wir können versuchen, die Zeit anzuhalten, indem wir sie auf Video aufnehmen; die unmittelbare Tiefe hält das Video aber nicht fest.