Kurzgeschichten

Graugänse

Es roch nach Kaffee und frischer Farbe. Von weitem hörte ich Glockengeläut, Sonntag vormittag, Zeit zum Gottesdienst. Ich saß in unserer neuen Küche und schaute aus dem Fenster.

Drei Wochen hatte ich gebraucht, den Fußboden gefließt, neue Schränke, Fenster und Wände gestrichen. Mein Urlaub war um, gestern fertig geworden, morgen wieder arbeiten. Alles geschafft, ich war sehr zufrieden. Seit zwei Jahren war ich jetzt mit Sylvia zusammen, sie würde bei mir einziehen wenn die Küche fertig ist. Praktisch aber wohnte sie schon längst hier. Im Herbst wollten wir heiraten.

Ich war sehr glücklich, ich spürte meine Knochen, ich trank noch eine Tasse Kaffee und schaute in den Garten. Im Frühjahr hatten sich dort zwei Graugänse eingenistet, zwischen dem Rhabarber und der Himbeerhecke haben sie sich ihr Nest gebaut. Silke aus dem vierten Stock hat den Garten angelegt, ein Öko-Garten, gut gedacht, aber inzwischen ziemlich verwahrlost. Die Graugänse haben ihre Ruhe. Es ist nicht weit zum See, und es gibt hier keine Hunde.

Jeden Morgen und in jeder Arbeitspause beobachte ich sie, manchmal vergesse ich dabei die Zeit. Drei Eier hat sie gelegt, das ist nicht viel für eine Gans. Sie scheint sich nie von der Stelle zu rühren, aber immer gucke ich ja auch nicht. Er verteidigt sie und ihr Gelege aufopferungsvoll. Sogar die Katze vom Nachbarhaus, in deren Revier das Nest liegt, hat er endgültig vertrieben. Wochen hat das gedauert, aber jetzt macht sie einen großen Bogen um den Rhabarber.

Wann sie wohl schlüpfen? Bis zum Herbst müssen sie fliegen können. Ich weiß nicht, ob sie gut in der Zeit sind.

„Du und deine Gänse“, sagt Sylvia plötzlich. Ich habe sie nicht reinkommen hören. Sie steht neben mir und streicht mir durchs Haar. „Bestimmt zwei Tage hast du hier gesessen und geguckt, als ob sie davon schneller schlüpfen. Wenn wir vorgestern fertig geworden wären, hätten wir noch mit Sabine und Fritz an die Ostsee fahren können, und du hättest noch was von deinem Urlaub gehabt.“

Das war vor vier Wochen.

Inzwischen ist etwas merkwürdiges passiert. Eines mittags flog er weg, vielleicht um etwas zum Fressen zu besorgen, und kam nicht zurück. Allein hat sie ihr Gelege nicht verteidigen können. Ihre drei Küken hat die Katze geholt, eins nach dem anderen. Ich werde nie den Moment vergessen, als sie zurückkommt und ihr leeres Nest erblickt, als auch das letzte weg war. Erst lief sie verstört herum, so als wäre das leere Nest nicht ihr Nest und sie würde das richtige noch suchen. Ein furchtbares Geschrei habe ich erwartet, als sie zu begreifen schien daß ihre Kleinen nicht mehr da waren. Aufgeregtes Flügelschlagen, ein Aufrichten auf die Hinterbeine, irgendsowas. Oft genug hatte sie das gezeigt aus nichtigerem Anlaß. Aber sie zupfte nur verstohlen und ungläubig an ihrem Nest herum, so als würde sie es ausbessern, für alle Fälle, wenn sie aus diesem Traum erwacht.

Dann hat sie sich draufgesetzt, und sich nicht mehr von der Stelle gerührt.

Wie oft hatte ich das laute Geschnatter gehört, zur Begrüßung, wenn sie sich stritten, bei Gefahr, wenn sie sich freuten oder einfach nur so.

4 Tage später war er wieder da, aber es war zu spät. Die Küken waren verloren.

Sie saß auf dem leeren Nest, und er, als wäre nichts geschehen, umsorgte sie wieder wie beim Brüten. Auch noch am nächsten Tag, sie stand nicht einmal auf. Am übernächsten Morgen waren sie beide fort.

Gänse sind streng monogam, steht bei Lorenz, und: es gibt mehr Weibchen als Männchen. Nur die feste Bindung an ein starkes Männchen sichert ein Überleben des Nachwuchses. Ihr hat es diesmal nichts gebracht. Trotzdem blieb sie bei ihm.

Menschen sind da wohl anders. Bis zum Herbst hat Sylvia nicht gewartet. Sie war schon weg, als sich die ersten Zugvögel, darunter wohl auch meine Gänse, in Richtung Süden aufmachten.

Es ist jetzt Herbst. Ich liebe den Herbst, mit seinem bunten Gewand, den vielgestaltigen Wolken am bewegten Himmel, ich liebe sogar seine Stürme. Der Herbst verändert viel, alles ist in Bewegung und bunt.

Ich sitze am Fenster und schaue in den leeren Garten, der mir so trostlos vorkommt. Die Krähen haben das Nest inzwischen zerrupft, es ist kaum noch zu erkennen, aber sie rupfen immer noch. Es liegt kaum noch ein Zweig auf dem anderen. Vielleicht suchen sie etwas was darunter verborgen sein könnte. Krähen habe ich nie brüten sehen, sie tun es bestimmt, aber sie scheinen keine Nester zu mögen.

Es ist kalt geworden, sehr kalt. Sie heizen schon, dabei ist erst September. Und es ist grau geworden, sehr grau, dabei ist doch gerade Herbst.