Frag’ mich nach Jesus!

Unlängst sah ich einen skurrilen Herrn, etwa 50-70 Jahre alt, die schneeweißen Haare lang und zottelig wie der Vollbart, mit kahlem Kopf. Auf der Brust prangte ein großer Sticker mit der Aufschrift: Jesus lebt! Er trug ein Köfferchen, wahrscheinlich voller Bücher, auf dem stand in großen Buchstaben: Frag’ mich nach Jesus! Aber niemand fragte ihn. Trotzdem lächelte er freundlich, wenn er auch recht angespannt wirkte, wie auf dem Sprung: Allzeit bereit, eine lange Geschichte zu erzählen. Erleuchtet, aber gleichzeitig einsam und enttäuscht.

Ich schlich mich an ihm vorbei, ich wollte keine Geschichte anhören, ich brauchte keine – ich hatte meine eigenen Geschichten. Vermutlich hatte er das Gefühl, ein wunderbares, großartiges Wissen in sich zu tragen, vielleicht wie ein kleiner Junge, der genau weiß, wo ein Schatz vergraben liegt, weil er eine Karte im Kopf hat, und nun jemand sucht, der ihm das glaubt und mit ihm dorthin geht um diesen Schatz zu heben. Der ihm glaubt, dass diese Karte echt ist.

Wahrscheinlich dieses Gefühl trieb den skurrilen Herrn auf die Straße: Ich habe ein wunderbares Geschenk für euch, eine Neuigkeit, eine Erkenntnis, etwas Wunderschönes! Warum fragt mich denn keiner? Ich habe seine Einsamkeit gespürt, seine Verlorenheit, dass ihn keiner haben will. Und bin geflüchtet, indem ich auf den Boden geschaut habe. Nur keinen Blickkontakt riskieren!

Wie mag dieser Mann sich wohl fühlen, der einen Schatz in seinem Köfferchen spazieren trägt, eine tiefe Wahrheit gefunden hat, und niemand interessiert’s? Und alle, die ihn sehen schauen schnell an ihm vorbei, damit er sie nur nicht anspricht?

Tragen wir nicht alle etwas Wunderschönes in uns, und keiner will es haben, weil alle Menschen von ihren eigenen Geschichten erfüllt sind?

 

3 Kommentare

  • Stefan sagt:

    Den kenne ich! Habe mich ganz ähnlich an ihm vorbeigestohlen – endlich kann ich drüber lachen!

  • Anja sagt:

    Die Tragik dieses Mannes besteht aus meinem Empfinden weniger darin, dass alle anderen Menschen von ihren eigenen Geschichten zu sehr erfüllt wären, um noch aufnahmefähig für das Wunderschöne im Nächsten zu sein.

    Die Tragik besteht aus meiner Sicht darin, dass der Mann meint, im Kontakt mit seinem Nächsten ausschließlich eine Geschichte über Jesus erzählen zu müssen.

    Dabei ist doch gerade das geheimnisvolle Göttliche an Jesus, das wir ihn alle in uns direkt spüren können, wenn wir das wirklich wollen.

    Wir brauchen also keine Geschichten von anderen erzählt zu bekommen, um Jesus zu erfahren. Wir brauchen einzig die echte Bereitschaft, ihn in uns zu spüren.

    Die Tragik des Mannes ist, dass er ausschließlich seine Geschichten erzählen will und doch den Schlüssel zu einem echten Verständnis von Jesus nur dann bekäme, wenn er weiter fragte, noch weiter in die Tiefe seiner ureigensten Erfahrung ginge… statt erstmal zu erzählen. Er hat diese Bereitschaft, Jesus wirklich zu spüren und zu erfahren, offenbar selbst noch gar nicht genügend in sich. Stattdessen will er anderen etwas erzählen. Und hat doch ja noch gar nichts Elementares von Jesus verstanden.

    Die Tragik des Mannes ist, dass er offensichtlich sehr arm in seinem Verständnis von Jesus ist, während zugleich sein Sticker und sein Koffer sagen: „Ich bin sehr reich in meinem Verständnis von Jesus“.

    Und unsere Tragik ist, dass uns dieser krasse Widerspruch dem armen Mann gegenüber erstmal sprachlos macht. So sprachlos, dass wir erstmal nicht mehr wissen, wie wir mit diesem armen Mann Nächstenliebe leben könnten. Obwohl er doch offensichtlich so einsam und arm ist.

    Und das ist auf eine Art für uns peinlich! Denn dies macht uns ja auch im gleichen Moment klar, dass wir selbst offenbar auch noch nicht wirklich alles von Jesus verstanden haben, noch nicht tief genug in unsere ureigenste Erfahrung mit Jesus hineingegangen sind.

    Sonst wüssten wir, wie mit diesem armen, einsamen Mann Nächstenliebe leben, wie ihm begegnen in seinem Unverständnis und in seinem Armutszeugnis über sich selbst.

    Darum lieber nur keinen Blickkontakt mit dem Mann riskieren! Denn er beschämt uns mit der Erkenntnis, wie wenig wir selbst bislang von Jesus verstehen – nicht weil er den tollen Koffer hat, sondern weil wir mit seinem Widerspruch und seiner Armut nicht gleich in Nächstenliebe umzugehen wissen.

    Doch vielleicht erzählt es uns der Jesus in uns selbst, wie man einem solchen Mann das nächste Mal in Nächstenliebe begegnen kann?

  • Sylvua sagt:

    Heute stand ein junger Mann in Dortmund mit jenem Koffer, der Aufschrift und auf dem Sprung. In der Menschenmasse, die sich an ihm vorüber schob, musste sich keiner – ich inklusive – vorbei schleichen. Aber gern hätte ich die Motivation dahinter erfragt oder zumindest bemerkt, wie enorm wichtig ich dieses Flagge zeigen in der Fußgängerzone als Gegengewicht zu den regelmäßigen, islamistischen ‚Lies!‘- Kampagne dieser Tage finde. Ich bekam mit, wie englischsprachige Leute hinter mir sich belustigt darüber unterhielten. Als der eine Mann meinte, man müsse dem Koffermenschen nur die richtigen Fragen stellen, um ihn aus dem Konzept zu bringen, z.B. „what was Jesus favored color“, drehte ich mich um und vermutete „White,‘ cos it contains all other colors.“. Das ist es: egal, was den Mann dort stehen lässt, solange er bewirkt, dass der Durchschnittsbürger sich mit seinem traditionell erworbenen Glauben beschäftigt, ist das eine gute Sache, meine ich.

Schreibe einen Kommentar zu Anja Antworten abbrechen


*